So lange die Sonne scheinen wird ...

Die Proklamation der Besetzer von Alcatraz (1969)

In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann eine junge Generation "neuer Indianer" vor allem in den Städten der Öffentlichkeit deutschlich zu machen, daß das "Indianerproblem" keineswegs gelöst war. Kalifornische Städte wie Los Angeles und San Francisco hatten im Zuge des staatlichen Umsiedlungsprogramms zahlreiche indianische Arbeitssuchende aus allen Teilen der Vereinigten Staaten angezogen, die sich im Umfeld des San Francisco Indian Center zum "United Bay Council of American Indian Affairs" zusammengeschlossen hatten.
Hier diskutierte man Probleme, die aus der gemeinsamen rechtlichen Stellung als "Indianer" entstanden war, und Strategien für ihre Lösung. Landfragen, mangelnde staatliche Fürsorge und die verbliebenden Souveränitätsrechte der indigenen Völker standen im Vordergrund. Das Entschädigungsangebot der USA von 47 Cent pro Morgen des im 19. Jahrhundert entzogenen Landes erhitzte die Gemüter. Ein Brand vernichtete im Oktober 1969 das Indian Center.

Unter Führung des Chippewa Adam "Fortunate Eagle" Nordwall entschloss man sich daraufhin zu einer spektakulären Protestaktion. 1968 war das Hochsicherheitsgefängnis auf der Felseninsel Alcatraz vor der Küste von San Francisco geschlossen worden. Unter Hinweis auf den Vertrag von Laramie, der 1868 zwischen den Sioux und der USA abgeschlossen worden war und der den Sioux Ansprüche auf von der Bundesregierung nicht mehr genutztes Gebiet zugestand, besetzte man am 20. November 1969 die verwaiste Gefängnisinsel.
Die friedliche Besetzung dauerte bis zum 11. Juni 1971 und brachte anfangs ein großes und positives Medienecho. Auch wenn die Aktion ohne greifbaren Erfolg blieb, wurde sie zum Vorbild für ähnliche, wenngleich zunehmend militante Inszenierungen in den siebziger Jahren. Die Proklamation, die von den Besetzern an die Presse verteilt wurde, illustriert den Gebrauch von Ironie als Mittel des gewaltlosen Widerstands.


An den Großen Weißen Vater und sein Volk:

Wir, die eingeborenen Amerikaner, fordern im Namen aller Indianer Kraft des Rechtes des Entdeckers das Land zurück, das unter dem Namen Alcatraz bekannt ist. Wir möchten im Umgang mit den weißen Bewohnern dieses Landes gerecht und ehrenhaft sein und bieten hiermit folgenden Vertrag an:
Wir erwerben die Insel Alcatraz für 24 Dollar ($ 24) in Glasperlen und rotem Tuch - nach dem Vorbild des Kaufes einer ähnlichen Insel durch den weißen Mann vor rund 300 Jahren. Wir wissen, daß 24 Dollar in Handelswaren für diese 16 Morgen mehr ist, als für die Insel Manhatten bei ihrem Verkauf bezahlt worden ist, aber wir wissen, daß die Preise für Land im Laufe der Jahre gestiegen sind. Unser Angebot von 24 Dollar ist besser als die 47 Cent pro Morgen, die weiße Männer den kalifornischen Indianern gegenwärtig für ihr Land zahlen. Solange die Sonne aufgeht und die Flüsse ins Meer fließen, werden wir den Bewohnern dieses Landes einen Teil davon zu ihrem eigenen Gebrauch überlassen, den die indianische Regierung treuhändig durch die "Behörde für Weiße Angelegenheiten" (BWA) verwalten lassen wird.
Darüber hinaus werden wir die Bewohner in der richtigen Art der Lebensführung unterweisen. Wir werden ihnen unsere Religion, unsere Bildung und unseren Lebensstil vermitteln, damit sie den Stand unserer Zivilisation erreichen und wir sie und alle ihre weißen Brüder aus ihrem wilden und unglücklichen Dasein befreien können. Wir bieten diesen Vertrag in gutem Glauben an und möchten immer gerecht und ehrenhaft mit allen weißen Menschen umgehen.
Wir glauben, daß sich diese Insel mit dem Namen Alcatraz für diesen Zweck besser eignet als eine Reservation für Indianer, wie sie den Standarts des weißen Mannes entspricht. Damit ist gemeint, daß dieser Ort in den folgenden Punkten den meisten Reservationen ähnelt:

(1) Es existieren keine Anbindung an die moderne Infrastruktur und keine Transportmittel
(2) es gibt kein frisches, fließendes Wasser
(3) die sanitären Einrichtungen sind unzureichend
(4) es gibt keine Bohr- oder Schürfrechte für Öl oder Erze
(5) es ist keine Industrie vorhanden und die Arbeitslosigkeit ist daher sehr hoch
(6) es gibt keine Gesundheitseinrichtungen
(7) die Erde ist felsig und unfruchtbar und ernährt kein Wild
(8) keine Bildungseinrichtungen existieren
(9) die Einwohner wurden immer wie Gefangene behandelt und in Abhängigkeit gehalten

Überdies wäre es passend und symbolhaft, wenn Schiffe aus der ganzen Welt, die in das Golden Gate einfahren, zuerst indianisches Land sehen und so an die wahre Geschichte dieser Nation erinnert würden. Diese kleine Insel wäre ein Symbol für die großen Gebiete, die einst von freien und edlen Indianern beherrscht wurden.
Wie werden wir dieses Land nutzen? Seit das San Francisco Indian Center abgebrannt ist, gibt es für Indianer keinen Versammlungsort mehr. Daher sollen auf der Insel mehrere indianische Einrichtungen entstehen:

1. Ein Zentrum zur Erforschung der Ureinwohner Amerikas soll den jungen Indianern die besten unserer eingeborenen Künste und Wissenschaften vermittel und sie in den nötigen Fertigkeiten und den Kenntnissen zur Verbesserung des materiellen und geistigen Lebens aller indianischen Völker zu unterrichten. Angegliedert an dieses Zentrum wird eine Reiseuniversität unter indianischer Leitung, deren Studenten auf den Reservationen von deren Bewohnern die traditionellen Werte erlernen sollen, die im höheren Bildungswesen der Weißen fehlen.

2. Ein Indianisches Zentrum für Spiritualität soll die Praxis unserer alten religiösen Zeremonien und unserer Medizin vermittel. Hier sollen unsere Künste dargestellt und unsere jungen Leute in Musik, Tanz und Heilkunde unterwiesen werden.

3. Ein Indianisches Zentrum für Ökologie soll unsere jungen Leute in wissenschaftlicher Forschung und Technik ausbilden und dabei unterstützen, unser Land und das Wasser wieder in ihren reinen und natürlichen Urzustand zu versetzen. Wir werden versuchen, die Luft und das Wasser in der Bay Area wieder sauber zu machen. Wir werden uns darum bemühen, das Fisch- bzw. Tierleben und die Ökologie des Meeres wiederherzustellen, die durch den Lebenswandel des weißen Mannes gefährdet wurde. Einrichtungen zur Entsalzung von Meerwasser für eine Nutzung durch den Menschen sollen entwickelt werden.

4. Eine Große Indianische Ausbildungsstätte soll unseren Völkern vermitteln, wie man in der heutigen Welt vorankommt, wie wir unseren Lebensstandart erhöhen, den Hunger und die Arbeitslosigkeit unter allen unseren Völkern beenden können. Diese Ausbildungsstätte wird auch ein Zentrum für indianische Kunst und Handwerk beherbergen und ein Restaurant, in dem eingeborene Speisen angeboten und Kochkurse für Indianer absolviert werden können. Dieses Zentrum wird der Öffentlichkeit indianische Kunst und indianische Küche aller Stämme zugänglich machen, damit alle die Schönheit und den Geist der indiansichen Tradition erfahren können.

5. Einige der Gebäude sollen als Museum der Indianer genutzt werden, in dem unsere Speisen und andere kulturelle Errungenschaften ausgestellt werden, die wir der Welt gegeben haben. Ein anderer Teil des Museums soll die Dinge zeigen, die der weiße Mann den Indianern für das LAnd gab, das er ihnen genommen hat: Krankheit, Alkohol, Armut und Kulturverlust (symbolisiert durch alte Konservendosen, Stacheldraht, Gummireifen, Plastikverpackungen usw.). Ein Teil des Museums soll als Kerker erhalten bleiben; zur Erinnerung an die indianischen Gefangenen, die sich der weißen Herrschaft widersetzten, und jene, die in Reservationen gefangen gehalten wurden. Das Museum wird die edlen und tragischen Ereignisse der indianischen Geschichte darstellen, darunter die gebrochenen Verträge, die Dokumentation des "Pfades der Tränen", das Massaker von Wounded Knee ebenso wie den Sieg über "Gelbhaar" Custer und seine Armee.

Aus all diesen Gründen fordern wir daher im Namen aller Indianer diese Insel für unsere indianischen Nationen zurück. Wir meinen, daß diese Forderung gerecht und angemessen ist, und daß uns das Land solange überlassen werden soll, solange die Flüsse fließen und die Sonne scheinen wird.

Indianer aller Stämme, November 1969, San Francisco, Kalifornien

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